Mit Anthroposophie (vom griech. “Anthropos”, Mensch, und “Sophia”, Weisheit) meint Rudolf Steiner das geübte, innere Bewusstsein, mit dem der Mensch mit der geistigen Welt in Beziehung tritt. Seine Umschreibung dafür lautet: “Bewusstsein meines Menschentums”.

Die Methode dieser geistigen Schulung ist ein spiritueller Erkenntnisweg, der den Anspruch erhebt, dass der Geistesschüler ihn bei vollem Bewusstsein geht, und der sich nicht auf die Übernahme, das Glauben spiritueller Erfahrungen anderer richtet. Die angegebenen Übungsmöglichkeiten laden in frei lassender Weise zu einer selbständigen Umsetzung ein, es geht nicht um eine einförmige Methodik.

Die geistige Schulung soll den Menschen befähigen, sich in einer umfassenderen Weise mit der Welt zu verbinden: “Ich empfinde mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens”.
Die Anthroposophie will das Geistige im Menschen mit dem Geistigen der Welt verbinden. Demnach ist die Welt nicht nur naturwissenschaftlich zu erklären, vielmehr wirken in der Welt- und Menschheitsentwicklung geistige Gesetzmäßigkeiten.

Die Anthroposophie will diese Gesetzmäßigkeiten aufspüren und das Wissen darum in unser tägliches Leben integrieren. Diese Integration wird als ein künstlerischer Prozess gestaltet; so spricht Rudolf Steiner von Erziehungskunst oder von Heilkunst. Joseph Beuys spricht später von sozialer Kunst.

In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, dass aus der Anthroposophie heraus kulturelle Impulse in den verschiedensten Lebensbereichen entstanden sind: Eurythmie (sichtbare Sprache bzw. Musik), Sprachgestaltung, Malerei, Bildhauerei, Architektur, Medizin, Pädagogik, Heilpädagogik, Soziale Dreigliederung, Religion und Landwirtschaft.

„Wenn auch Anthroposophie zunächst ihre Wurzeln in den schon gewonnenen Einsichten in die geistige Welt hat, so sind das doch nur ihre Wurzeln. Ihre Zweige, Blätter, Blüten und Früchte wachsen hinein in alle Felder des menschlichen Lebens und Tuns.“
Rudolf Steiner in einer Mitteilung an die Mitglieder, Januar 1924

Dreiheit des Menschen

Nach dem anthroposophischen Menschenbild besteht der Mensch aus Leib, Seele und Geist. Mit seinem Leib ist der Mensch mit dem Vererbungsstrom verbunden, mit dem Geist ist seine Herkunft und Verbundenheit mit der geistigen Welt gemeint, und die Seele ist die vermittelnde Instanz zwischen den beiden.

Diese Dreiheit finden wir mehrmals beim Menschen wieder.

Betrachten wir seinen Körper, so können wir auch hier eine Untergliederung entdecken: Es gibt den Nerven-Sinnesbereich, als dessen Zentrum der Kopf zu sehen ist; das rhythmische System des Menschen ist eher in seinem Rumpf anzusiedeln, dort wo die Herz- und Atemtätigkeit stattfindet; und das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System, das hauptsächlich den Verdauungsbereich und die Tätigkeit der Arme und Beine bezeichnet.

Auch in den Lebensäußerungen des Menschen finden wir diese drei Bereiche wieder, und zwar das Denken verbunden mit dem Nerven-Sinnes-System, das Fühlen gekoppelt an das rhythmische System und die Willensäußerungen, die an das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System gebunden sind. Die seelische Entwicklung im Denken, Fühlen und Wollen zeigt an, welches der körperlichen Systeme gerade einen Reifungsprozess durchmacht. Der Zusammenhang zwischen Leib, Seele und Geist in seinen verschiedenen Reifungsstadien ist in der Kinderbetrachtung durchaus interessant, vor allem wenn es darum geht, Probleme des Kindes zu erkennen und helfend einzugreifen.

Die vier Wesensglieder

Der Dreiheit des Menschen liegt noch eine Vierheit zugrunde, nämlich die Wesensglieder des Menschen, die mit den verschiedenen Elementarreichen verbunden sind.

Der physische Leib, den wir sehen, messen, wiegen und anfassen können, ist aus der Substanz aufgebaut, die wir in der mineralischen Welt wiederfinden. Dieser Körper unterliegt den Naturgesetzen und zerfällt nach dem Tode, wenn er nicht mehr durch die Lebenskräfte zusammengehalten wird.

Der Äther- oder Lebensleib ist ein “Form- oder Kraftleib”, der den physischen Leib belebt, und alle Lebensfunktionen wie Atmung, Wärme, Ernährung, Absonderung, Erhaltung, Wachstum und Fortpflanzung aufrechterhält und steuert. Er wird auch der Architekt des physischen Leibes genannt, da er die Formkräfte enthält, die diesem seine Gestalt geben. Diesen Leib hat der Mensch mit der Pflanzenwelt gemeinsam.

Der Astral- oder Empfindungsleib ist der Träger von allen Empfindungen wie Schmerz und Lust, von Leidenschaft und Begierde. Rudolf Steiner nennt ihn auch den Seelenleib. Er ist das Wesensglied, das der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat.

Als viertes Wesensglied hat der Mensch sein “Ich”. Damit ist sein geistiger Wesenskern gemeint, der unsterblich ist und der in den verschiedenen Inkarnationen bestehen bleibt und sich weiterentwickelt. Durch dieses Ich haben wir die Möglichkeit, als bewusste Wesen in unser Schicksal und in die Entwicklung der Wesensglieder gestaltend einzugreifen.

„Indem der Mensch also zu sich “Ich” sagt, beginnt in ihm etwas zu sprechen, was mit keiner der Welten etwas zu tun hat, aus denen die bisher genannten “Hüllen” entnommen sind. Das “Ich” wird immer mehr Herrscher über Leib und Seele. … Das “Ich” lebt in Leib und Seele; der Geist aber lebt im “Ich”. Und was vom Geiste im “Ich” ist, das ist ewig.“
Rudolf Steiner, Theosophie

Reinkarnation und Karma

Der Mensch ist durch sein unsterbliches “Ich” Bürger der geistigen Welt. Diese geistige Welt verlässt er, um sich auf der Erde zu inkarnieren und eine bestimmte Schicksalsaufgabe zu erfüllen. Durch die seelische Verbundenheit mit anderen Menschen entstehen neue Schicksalsaufgaben. Nach seinem Tod durchläuft der Mensch in der geistigen Welt einen Lern- und Schulungsweg (Läuterung) und kommt mit neuen Impulsen auf die Erde.

„Der Leib unterliegt dem Gesetz der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal. Man nennt dieses von dem Menschen geschaffene Schicksal mit einem alten Ausdrucke sein Karma. Und der Geist steht unter dem Gesetz der Wiederverkörperung, der wiederholten Erdenleben.“

Rudolf Steiner, Theosophie

Dieser Gedanke des Karma ist nicht fatalistisch. Vielmehr ist es die Chance, den eigenen Schicksalsweg zu bejahen und sich seines Lebens anzunehmen.